Hermes hält die Welt in seiner Hand.

 

Die Smaragdtafel des
Hermes Trismegistos

Das Modell der Kontinuierlichen Schöpfung

 

Der Mathematiker und Kabbalist Stan Tenen entdeckte in der Buchstabensequenz der hebräischen Genesis ein wissenschaftliches Modell der »kontinuierlichen Schöpfung«, das in einer Torusform verschlüsselt ist. Nach Tenen ist auch der Text der sagenumwobenen Smaragdtafel eine Repräsentation dieses Urwissens.

Ein kürzlich erschienener Artikel mit einer Prosaübersetzung der Smaragdtafel (Tabula Smaragdina) erinnerte mich wieder einmal an die schon oft an mich herangetragenen Fragen zu einer möglichen Beziehung zwischen der Tafel und meinen Forschungen zur Struktur des hebräischen Textes der Genesis, zu den westlichen Alphabeten und zu kabbalistischen und Sufilehren. In der Vergangenheit habe ich mich gescheut, diese Fragen anzugehen, da ich das Gefühl hatte, weder genug Wissen über die Smaragdtafel noch ein ausreichendes Verständnis meiner eigenen Arbeiten zu haben, um zu einer relevanten Vergleichsstudie zu gelangen. Meine Aufmerksamkeit wurde jedoch wieder auf die Smaragdtafel gelenkt, als ich nach Korrespondenzen zwischen traditionellen hermetischen Studien und Schöpfungsmodellen einerseits sowie den selbstreferentiellen, gewebten, von mir aus den Buchstabenfolgen des hebräischen Textes der Genesis rekonstruierten Mustern andererseits suchte, wobei ich mich von talmudischen, kabbalistischen und sufistischen Quellen leiten ließ.

Die vorliegende Untersuchung der Smaragdtafel ist nicht der Versuch, eine weitere erzählerische Übersetzung des Textes zu erstellen. Was ich vorschlage, ist etwas grundsätzlich anderes. Die erzählerischen Übersetzungen geben den Text mehr oder weniger genau im Englischen bzw. Deutschen wieder, so daß wir ihn in Form von Worten und Sätzen lesen und verstehen können. Die Worte haben Bedeutungen, und die Sätze haben Bedeutungen. Aber keine der erzählerischen Übersetzungen gibt uns einen Hinweis, was die Worte und Sätze für sich genommen bedeuten. Sie sagen uns nicht, auf was sich der Text bezieht, sie sagen uns nicht, was wir tun sollen, und sie geben noch nicht einmal einen Hinweis, warum sich intelligente Menschen mit der Smaragdtafel beschäftigen sollten. Die narrativen Übersetzungen sagen uns nicht, was die Smaragdtafel eigentlich ist.

Dies weist gewisse Ähnlichkeiten zu der Situation vor der Entdeckung Trojas auf. Wir hatten Texte und Übersetzungen, die Troja beschrieben, aber solange bis die Archäologen die Reste der tatsächlichen Stadt Troja fanden, wußten wir nicht, ob die Texte wahre Begebenheiten und Orte beschrieben oder nicht – und wir konnten Troja nicht verifizieren. Um also die Bedeutung der narrativen Übersetzung des Textes zu verstehen, muß zuerst die Smaragdtafel selbst gefunden und identifiziert werden. Deshalb möchte ich die Vermutung aussprechen, daß sich die Erzählung der Smaragdtafel auf einen bestimmten Satz geometrischer Formen bezieht, die ein universales, selbstorganisierendes und kreatives Prinzip umreißen. Dieses möchte ich im folgenden Essay herausarbeiten.

Die Welt, die Hermes hält, ist möglicherweise das Modell der Kontinuierlichen Schöpfung, wie es in der Buchstabenfolge des hebräischen Textes der Genesis spezifiziert ist. »Hermes Trismegistos wurden die Attribute des alten ägyptischen Gottes Thoth zugeordnet, und man stellte sich ihn als Weisen vor, als Überbringer aller Künste und Wissenschaften, als Erfinder des Alphabets, der Mathematik, der Schrift, der Theologie, der Geometrie usw. Die hermetischen Schriften wurden natürlicherweise ihm zugeordnet, wie Lamblichus anmerkt: ›Hermes, der Gott, der über die Sprache waltet, war in früheren Zeiten allen Priestern vertraut, und die Kraft, die über die wahre Wissenschaft von den Göttern herrscht, ist überall dieselbe. Folglich widmeten unsere Vorfahren alle ihre Erfindungen und Weisheiten diesem Gott und unterschrieben alle ihre eigenen Schriften mit dem Name des Hermes.‹« (s. Bild 2)
(Fideler,S. 230-231; Hervorhebung von S.T.)

Meine Untersuchung des Buchstabentextes der Genesis und der verschiedenen Lehren der abrahamitischen Religionen führten mich zu einer Reihe von Modellen, die miteinander in Beziehung stehen und »Schnappschüsse« in einem Prozeß der Kontinuierlichen Schöpfung darstellen – ein Modell der kontinuierlichen Projektion des Willens Gottes in die Welt, das ich ein generelles Abbildungsprinzip nenne (die Kontinuierliche Schöpfung ist ein Modell der Welt). Dieses Prinzip verkörpert unsere persönlichen Mittel, unseren bewußten Willen (der in letzter Konsequenz vom Willen Gottes abstammt) in die physische Welt zu projizieren. Das Abbildungsprinzip äußert sich zuerst in unseren Händen, dann in unserer Zunge. Das gleiche geometrische Modell repräsentiert sowohl die Hand als auch die Zunge. Sechs dieser Modelle, zu einem gemeinsamen Mittelpunkt zusammengebunden, formen die Welt der Kontinuierlichen Schöpfung. Einiges davon sowie die dahinterliegende Logik habe ich in meinem Artikel »Ein Gott oder viele« in Tattva Viveka Nr. 5 (zuerst englisch: »The God of Abraham« in: Gnosis Nr. 28) dargestellt. Nachstehend folgt das Ein-Ganzes-Ei/Apfel-Welt-Modell (One-Whole-Egg/Apple-World model), das ich die Kontinuierliche Schöpfung nenne. Es basiert auf der hebräischen Buchstabenfolge der ersten Verse der Genesis:
Als Textlinie auf einer zweidimensionalen Oberfläche ist dies die genaueste und kohärenteste Anordnung aller Buchstaben des ersten Verses des hebräischen Textes der Genesis. Sie paßt auf die Oberfläche eines 2-Torus – der Form nach wie der innere Schlauch eines Autoreifens oder ein Donut mit einem einzelnen Loch in der Mitte. Die sechs Umdrehungen und die eine Querverbindung entsprechen den sieben Regionen, die mathematisch die Oberfläche eines 2-Torus beschreiben:

 

 

Die Autokorrelation der Buchstaben des hebräischen Textes der Genesis 1:1. Die Buchstaben des ersten Verses des hebräischen Textes der Genesis sind wie die Perlen auf einer Perlenkette angeordnet und gepaart. Buchstaben in der gleichen Farbe befinden sich in der gleichen Vorne/Hinten/Unten-Symmetriegruppe. Dieses Muster ist stark genug, einen Fehler oder den Verlust eines Buchstabens zu korrigieren.

 

 

 

 

Ein kabbalistisches Modell der KONTINUIERLICHEN SCHÖPFUNG

Da die Kontinuierliche Schöpfung als Modell der Ganzen Welt auch zur Arche und zum Tempel in Beziehung steht (die Kontinuierliche Schöpfung könnte tatsächlich ein Modell des Tempels sein), und da der Tempel von Salomon der Überlieferung nach mit Hilfe des Architekten Hiram gebaut wurde, ist es naheliegend, einen Zusammenhang zwischen HiRaM und HeRMes zu vermuten. »Der Name Hermes ist von ›Herm‹ abgeleitet, einer Form von ›CHiram‹, dem personifizierten universellen Lebensprinzip, das durch das Feuer repräsentiert wird.« »Die Skandinavier verehrten Hermes unter dem Namen Odin.« (Hall, p. XXXIX, Hervorhebung von S.T.)

»Die älteste und am meisten verehrte alchemistische Formel ist die heilige Smaragdtafel von Hermes. Die Wissenschaft zweifelt an der Authentizität der Tafel, einige bezeichnen sie als post-christianische Fälschung. Es gibt jedoch viele Hinweise, daß die Tafel, ungeachtet der Autorschaft, von hohem Alter ist. Während das Symbol der Smaragdtafel von speziell freimaurerischem Interesse ist – in seiner Beziehung zur Person des CHiram (Hiram) – , handelt es sich beim Inhalt zuerst und grundsätzlich um eine alchemistische Formel, die gleichzeitig die Alchemie der unedlen Metalle und die göttliche Alchemie der menschlichen Erneuerung betrifft.« (ebd.)

»In Dr. Sigismund Bacstroms Sammlung alchemistischer Manuskripte gibt es einen Abschnitt, der den Übersetzungen und Interpretationen dieser bemerkenswerten Tafel gewidmet ist, die im Altertum als die Tabula smaragdina bekannt war. Dr. Bacstrom wurde auf Mauritius von einem dieser unbekannten Adepten, der sich selbst Comte de Chazal nannte, in die Bruderschaft der Rosenkreuzer eingeweiht. Dr. Bacstroms Übersetzungen und Anmerkungen zur Smaragdtafel sind im folgenden auszugsweise wiedergegeben: ›Die Smaragdtafel, das älteste Monument der Chaldäer, betrifft den Lapis Philosophorum (den Stein der Weisen). Die Smaragdtafel dokumentiert den Ursprung der allegorischen Geschichte von König Hiram (oder Chiram). Die Chaldäer, Ägypter und Hebräer haben ihr Wissen über Chiram aus ein und derselben Quelle geschöpft. Homer, der diese Geschichte etwas abwandelte, folgte diesem Original, Virgil folgte Homer, und Hesiod übernahm das Thema für seine Theogonie in gleicher Weise von diesen. Ovid verwendete es später als Muster für seine Metamorphosis. Das Wissen um die geheimen Vorgänge in der Natur bildet den prinzipiellen Sinn hinter all diesen antiken Schriften, aber Unwissenheit machte daraus diese äußerlichen oder verschleierten Mythologien, und niedere Klassen von Menschen funktionierten es in Götzenanbetung um.‹« (ebd.) Ein interessanter Aspekt ist, daß »Chazal« auch ein rabbinischer Begriff ist, der sich auf die Rabbis und die rabbinischen Weisen und Schulen bezieht, die die jüdische Tradition bewahren und weitergeben.

»Wenn wir schließlich alle mythologischen Erzählungen miteinander vergleichen, können wir sehr leicht feststellen, daß ich berechtigterweise alle auf ein singuläres Prinzip zurückführen kann, denn sie haben alle den gleichen Gegenstand.« (Faivre, S. 48) Ich hoffe zeigen zu können, daß die eine Quelle und der eine Gegenstand, auf die im obigen Zitat Bezug genommen wird, als das zentrale Baumstamm/ Vortex bzw. Blitzstrahl/Alborak-Muster des Modells der Kontinuierlichen Schöpfung zu verstehen ist, wie es die Meru Foundation entwickelt hat (Alborak: mythisches Tier im Islam, das Mohammed beförderte).

 

Einige Merkmale des Modells der Kontinuierlichen Schöpfung
des einen ganzen Welteis

 

Text und Analyse der Smaragdtafel

Für alle 13 Verse gilt: Dies ist mein Versuch einer originalen Übersetzung. Da ich keine Kenntnisse der Originalsprache(n) habe, basiert diese Übersetzung auf einem Amalgam früherer Übersetzungen aus traditionellen und modernen Quellen. Die arabische Version der Smaragdtafel hat diese Präambel:

Dies diktierte der Priester Sagijus von Nabulus über den Eintritt Balinas' in die verborgene Kammer (diese Worte der Weisheit wurden am Ende des Buches von Balinas dem Weisen gefunden). Nachdem ich den Raum, in dem das Talisman-Symbol aufgestellt war, betreten hatte, fand ich einen alten Mann auf einem goldenen Thron sitzend, der eine Smaragdtafel in einer Hand hielt. Nun seht, was folgt – in Syrisch, der ursprünglichen Sprache, war darauf folgendes geschrieben:

Altsyrisch als Ursprache könnte sich auf das biblische Hebräisch beziehen, das in den heiligen aramäischen Buchstaben (babylonischer Stil) geschrieben wurde und das die Rabbis als die Elemente der Ursprache bezeichneten. Altsyrisch und Hebräisch/Aramäisch sind verwandte Sprachen der semitischen Sprachgruppe. Altsyrisch war ein Dialekt des Aramäischen, das von den frühen Christen benutzt wurde. Die Worte dieser Sprachen unterscheiden sich oftmals etwas in der Schreibweise, aber sie sind alle im gleichen oder in sehr nahe verwandten Alphabeten geschrieben, sie haben ineinander verwobene Geschichten, und ihre Wurzeln und Bedeutungen sind in all diesen Sprachen sehr nahe verwandt oder sogar identisch. Dies mag der Grund sein, weshalb die Interpretationen der Smaragdtafel und damit verwandter Begriffssysteme in Hebräisch (und auch in Arabisch) einen nützlichen geometrischen Schlüssel liefern, der uns hilft, ihre Bedeutung im Prozeß der Kontinuierlichen Schöpfung zu verstehen.

Das Modell der Kontinuierlichen Schöpfung – oder der Ganzen Welt – definiert geometrisch einen Satz von sechs (identischen) Modellen der menschlichen Hand, deren zweidimensionale Umrisse, wie sie bei verschiedenen Handgesten dargestellt werden, alle Buchstaben des hebräisch-aramäischen, des griechischen und des arabischen Alphabets zeigen (in einer bestimmten Periode und Stilrichtung). Diese Modellhand ist als Repräsentation des schöpferischen Willens Gottes gedacht, wie er durch jeden unserer persönlichen Willen über unsere Hände – und die Handlungen unserer Hände – in die Welt projiziert wird. Somit zeichnet die Smaragdtafel auch ein Modell der Quelle der Ursprache auf, wie sie auf den Gesetzestafeln, die Moses in Händen hält, von dem Einen Gott gegeben wurde. Dieser Gott wird in der Smaragdtafel als das Wunder des Einen, das Eine Ding, der Eine auf dem Thron beschrieben. Der Talisman ist auf die Erdscheibe in den Bauch der verborgenen Kammer gesetzt. (s. Bild 12)

Da beide Wörter in verwandten Sprachen, die parallele Alphabete benutzen, mit den gleichen Buchstaben geschrieben werden, ist anzunehmen, daß TaLiSMan mit TeLeSMos verwandt ist. Die verborgene Kammer ist von der Herrlichkeit des Gewölbes der Himmel verborgen, die sie umgeben und enthalten. Sie schließt den offenen Raum, Platos Höhle, innerhalb der Ganzen Welt ein.

Der Bauch ist auch die Gebärmutter von Mutter Mond. Balinas könnte sich auf den Eintritt in das Zentrum durch die Achse des Vortex beziehen, es weist auf den Kiemen-Eingang (engl.: baleen) durch die drei geflochtenen Fäden hin. Dies würde dem Geflecht erlauben, gleich einem Wal zu filtern. Der Begriff »baleen« käme dementsprechend über das Modell aus dem Wort »Balinas«.

Im Hebräischen ist NaS, ,(Nun-Samek) ein Wunder. LaB, , (Lamed-Bet) bedeutet im Hebräischen gewöhnlich Herz. BaaL,, (Bet-Ayin-Lamed) ist ein Meister. Somit könnte Balinas Meister des Herzens oder Meister der Wunder bedeuten. Von oberhalb des Pols/der Achse/des Fruchtstiels gesehen, zeigt die Kontinuierliche Schöpfung eine traditionelle herzförmige Umrißlinie.

»Die Tafel des Belenus diente den Opferungen zu dem keltischen Gott, der ermordet und wiedergeboren wurde. Er verursachte den Tod und die Geburt des Landes in der gleichen Weise, wie die Verwundung und Heilung des Fischerkönigs das Land um das Schloß herum betraf.« (Matthews, S. 85, Hervorhebungen von S.T.)

Das Schloß ist auf der Spitze des Tempelberges in der Mitte der Erdscheibe lokalisiert. Der alte Mann könnte Arik Anpin (oder Zer Anpin) in der kabbalistischen Tradition sein. Arik Anpin ist ein kabbalistischer Begriff, der sich auf das ›Antlitz Gottes‹ bezieht. Das ist das dreigeteilte Gesicht der Erdscheibe (der äquatorialen Ebene der Ganzen Welt), wo der Talisman aufgestellt worden war. Die drei Drehungen des Vortex oben und unten wurden unterschiedlich als Haare, ein Bart, die Nase und/oder der Mund und als Blitzstrahl oder Flamme bezeichnet. (s. Bild 11)

 

 

Yggdrasil, der Weltenbaum

 

»Wir sind uns darüber im klaren, daß entweder der Grotti drei Wurzeln haben ›sollte‹ oder daß Yggdrasil entwurzelt werden sollte, und daß die Finnen nicht berichten, wie der Mälstrom entstand.« (de Santillana/von Dechend, Fußnote 17, S. 214)

 

 

Die geflochtene Vortexsäule, der Mälstrom, repräsentiert ebenfalls den Weltenbaum in der Mitte des Gartens. – Rumis Mevlevi-Sufi-Wanderzypresse in der Mitte des Rosengartens. Auf der Spitze ist der Goldene Thron. Es ist der Weltenberg mit der Goldenen Sonne und dem Goldenen Samen – Vater Sonne – auf seinem Scheitelpunkt in der Mitte der Ganzen Welt.

 

 

 

Der Goldene Same, im Sonnenzentrum des Modells der Kontinuierlichen Schöpfung gelegen, ist außerdem »der Same, den keine Kornkammer enthält« in Rumis Gedicht »Rundtanz«; die Mühlsteine des Kornspeichers sind die beiden Hälften der Welt, mit der Erdscheibe – dem Rosengarten – als dem Dreschboden der Mühle. Rumis zwölf Tänzer umkreisen die Erdscheibe. Sie werden durch die zwölf Finger der drei Hände oben und unten repräsentiert. (Die Daumen sind zusammen im Zentrum des Vortex.) Diese zwölf repräsentieren außerdem die Stämme, die Häuser des Zodiac, die Apostel, die Imams, die Ritter und die Stunden des Tages. (Es gibt zwölf Stunden oben am Tag und zwölf Stunden unten in der Nacht.) Dies ist ebenfalls ein Modell von Hamlets Mühle im Sinne von de Santillana und von Dechend: Die Erdscheibe ist der Dreschboden, auf dem das goldene Korn zwischen den Mühlsteinen des Oberen und des Unteren Himmels gemahlen wird. Der obere Vortex, der sich um die Achse der Welt herum öffnet, ist metaphorisch gesehen auch das Loch im oberen Mühlstein, durch den das Korn eingeführt wird.

»In der 17. Sure des Koran steht geschrieben, daß Mohammed in einer gewissen Nacht vom Tempel in Mekka zu dem in Jerusalem transportiert wurde ... Eine seltsame Kreatur, genannt Alborak, oder der Blitzstrahl, wurde zur Beförderung Mohammeds herbeigebracht. ... Entsprechend einiger Versionen ritt Mohammed auf dem Alborak nach Jerusalem, wo er auf dem Berg Moriah abstieg. Dort ergriff er die unterste Sprosse einer goldenen Leiter, die vom Himmel herabgelassen worden war, und stieg, begleitet von Gabriel, durch die sieben Sphären, wobei er die Erde von der inneren Oberfläche des Empyreums [in der Antike und scholastischen Philosophie der oberste Himmel, der sich über der Erde wölbt] trennte.« (Hall, S. CLXXXIX, Hervorhebung von S.T.)

Im Aramäischen, Hebräischen und Arabischen bezieht sich Borak auf einen Blitzstrahl. Dieser Blitzstrahl ist die zentrale geflochtene Säule, die die Feuer-Licht-Flamme repräsentiert – die keimende Lebenskraft – in der Mitte der Kontinuierlicher Schöpfung. Er bricht hervor wie ein lebender Sproß aus dem zentralen Samen, dem Grundstein auf dem Tempelberg in Jerusalem. Auf Hebräisch setzt sich Smaragd aus den Buchstaben Ba-Re-Qet, , (Bet-Resh-Qof-Tov) zusammen. BaReQeT ist aus BaRaQ, (Bet-Resh-Qof) abgeleitet, was Blitz bedeutet, gefolgt von dem Buchstaben Tov, , T, der Selbstaktion oder Selbstgehalt bedeutet. Somit bezieht sich der Name Smaragd möglicherweise auf einen sich selbst enthaltenden Blitzstrahl – die Kontinuierliche Schöpfung, Ain Sof, Sophia, Sufi, Sufah (Wirbelwind) – der das kabbalistische geometrische Modell der Ganzen Welt formt.

Tafel heißt im Hebräischen LU-acH, , (Lamed-Waw-cHet). Dies ist der Singular des Wortes, das für die Tafeln des Moses benutzt wird, die er in seiner Hand hielt (in Hebräisch: B'YaDO). Buchstabe für Buchstabe übersetzt bedeutet LU-acH ›eine Flamme, die eine Oberfläche entfaltet‹ (Lamed bedeutet ›Flamme‹ oder ›Lernen‹; Waw bedeutet ›entfalten‹; cHet ist eine ›Oberfläche‹, ein ›Umkreis‹, eine ›Umgebung‹.) Somit würde die Smaragdtafel, im Hebräischen interpretiert, folgendes ausdrücken: Eine sich selbst enthaltende Blitz-Flamme, die eine Umgebung entfaltet. Diese Umgebung ist die Erdscheibe. (s. Bild 8)

Das Modell der Kontinuierlichen Schöpfung, wie es aus der Abfolge der hebräischen Buchstaben im ersten Vers der Genesis abgeleitet wurde, stimmt mit diesen Beschreibungen überein. Die Smaragdtafel verwendet einige dieser Beschreibungen und verwandte de-skriptive Wendungen für seine erzählerische Version der darunterliegenden, universellen geometrischen Metapher zur Projektion von Gottes Willen (Die Hand Gottes) in die Welt als Kontinuierliche Schöpfung. Es ist die gleiche Quelle: Die Smaragdtafel faßt diesen Prozeß zusammen.

 

Die 13 Verse der Smaragdtafel

  1. Es ist wahr, nicht falsch, sicher und verläßlich.
  2. Was unten ist, ist das gleiche wie das, was oben ist, und was oben ist, ist das gleiche wie das, was unten ist, (um) das Wunder des Einen Prozesses zu erreichen.
  3. Und so, wie alle Dinge aus dem Willen des Einen Prozesses existieren, so wurden alle Dinge durch Variationen des Einen Prozesses erschaffen (wohl versteckt durch den Einen Gott).

Die gesamte Smaragdtafel ist von einer ursprünglichen Substanz geformt worden, vollständig, durch einen einzigen Akt. Sie ist ein All-Eines. Das Eine ist die zentrale Spitze, wo Vater Sonne residiert. Das Ganze ist der umgebende Glanz, der äußere Rand, aus dem Mutter Mond (die Mondsichel) besteht. Das Eine ist im Ganzen, wie der Same innerhalb der Frucht ist, wie die singuläre Sonne sich im Zentrum des ganzen Sonnensystems befindet. Das Sepher Sohar zitiert Genesis 1:11, wo dies als der »Fruchtbaum, der eine Frucht hervorbringt, deren Same innerhalb ihrer selbst ist«, beschrieben wird. Der metaphorische Fruchtbaum ist der Vortex-Blitzstrahl – die Wanderzypresse in der Mitte des Rosengartens in Rumis Gedicht.

  1. Der Vater (des Einen Prozesses) ist die Sonne, und die Mutter (des Einen Prozesses) ist der Mond. Der spirituelle Wind hält ihn in seiner Gebärmutter. (Der Eine Prozeß) wird durch die spirituelle Erde genährt.

Der Eine Prozeß, der durch die Erdscheibe genährt wird, bezieht sich auf die Brustwarzen ähnlichen Spitzen der Vortices des spirituellen Flusses (das »Goldene Flies«), der aufsteigt und herunterfällt, um die Äquatorialebene zu säugen, die Erdscheibe der Kontinuierlichen Schöpfung (s. Bild 9). Telesmos kann auch Perfektion bedeuten – siehe dazu die alchemistischen Quellen. TeLeSMos=TaLiSMan.

  1. Dies ist der Vater von allen Zeichen/Symbolen (des Wunders der Verbundenheit) der ganzen Welt.
  2. Die Kraft des Einen Prozesses wird durch die spirituelle Erde vervollkommnet.

»Mittlerweile ist es notwendig geworden, erneut zu erklären, was diese ›Erde‹ ist, die heutige Interpreten gerne für einen Pfannkuchen halten. Die mythische Erde ist in der Tat eine Fläche, aber diese Fläche ist mitnichten unsere ›Erde‹: weder unser Globus, noch eine im voraus angenommene homozentrische Erde. ›Erde‹ ist die gedachte Ebene durch die Jahrespunkte, markiert durch die Äquinoktien und Solstitien (die Tag- und Nachtgleichen und die Sonnenwenden), mit anderen Worten: die Ekliptik. Dies ist der Grund, warum diese Erde sehr oft als quadratisch beschrieben wird. Die vier ›Ecken‹, also die zodiakalen Konstellationen, die heliakal sowohl aus den Tag- und Nachtgleichen als auch aus den Sonnenwenden entstehen, die Teile des ›Gerüsts‹ skambha, sind die Punkte, die eine ›Erde‹ bestimmen. Jedes Weltalter hat seine eigene ›Erde‹. Dies ist der Grund, warum von Weltuntergängen gesprochen wird. Eine neue ›Erde‹ geht auf, wenn eine andere, durch die Präzession herbeigeführte Folge zodiakaler Konstellationen die Jahrespunkte bestimmt.«
(de Santillana/von Dechend, S. 214f.)

  1. Trenne die spirituelle Erde von der dichten (groben Materie), indem du sie mit Demut und Sorgfalt erweichst (engl.: softening – Sof/Sufi/Sophia).
  2. (Der Eine Prozeß) steigt von der Erde zum Himmel auf, fällt zurück auf die Erde, und wird wieder erneut geboren in einem größeren Oben und Unten. Durch diesen Vorgang wird das Licht die ganze Welt erben; alle Dunkelheit wird weichen.
  3. Dies ist das (dreifach-mächtige) Starke, das die Stärke stärkt, denn es kommt durch die spirituelle Kraft, die alles Materielle durchdringt (Bild 13).
  4. Somit ist dies die Struktur, die erschaffen wurde, um die Beziehung zwischen Mikrokosmos und Makrokosmos, zwischen der inneren Welt und der äußeren Welt zu gestalten.
  5. Dies ist das generelle Prinzip (des Einen Prozesses) für die Abbildung aller Dinge (Bild 14).
  6. Deshalb bin ich Hermes, der dreimal Größte, denn ich habe drei Teile, die die Weisheit der Ganzen Welt formen.
  7. Die Arbeit des Einen Prozesses, der die spirituelle Sonne verbirgt, ist vollendet.

 

Zusätzliche Zitate und Quellen

»Wir hörten gerade, wie Hermes von der Sonne des Philosophen sprach. Im Najm Kobra, der Geschichte der vollkommenen Natur, wird der ›Zeuge im Himmel‹, der übersinnliche persönliche Meister, als Sonne des Mysteriums, als Sonne des Herzens usw. beschrieben. In einer seiner ekstatischen Rezitationen möchte uns Sohravardi mitteilen, wann und wie seine Sonne aufgeht, die nicht die Sonne des irdischen Westens oder Ostens ist.« »... Ein solcher Bericht im gleichen Werk ist der des Hermes, wo gesagt wird: ›Als ich Licht in die Wissenschaft des Mysteriums und die Vorgangsweise der Schöpfung bringen wollte, kam ich in ein unterirdisches Gewölbe, das mit Dunkelheit und Winden angefüllt war. ... Eine Person ... sagte zu mir: ›Nimm eine Lampe und plaziere sie unter einem Glas, um sie vor den Winden zu schützen. ... erforsche seinen Mittelpunkt und bringe von dort ein gewisses von Gott gemachtes Bild, ... so wirst Du das Wissen von den Mysterien der Schöpfung ans Licht bringen, die Ursachen der Natur, die Ursprünge und Modalitäten der Dinge.‹ ... ›Ich bin die vollkommene Natur. ...‹« (Corbin, S. 17-19; stark gekürzt, Hervorhebungen von S.T.)

»Derselbe Bericht erscheint Wort für Wort in einem Text, der Appollonius von Tyana (Balinas im Arabischen) zugeschrieben wird. ... Nachdem er die Lampe unter das Glas gestellt hat, wie von der Vollkommenen Natur vorgeschrieben, betritt der Initiant die unterirdische Kammer; er sieht einen Scheich, der Hermes ist und der sein eigenes Bild ist. Dieser sitzt auf einem Thron und hält eine Smaragdtafel in Händen, die eine arabische Aufschrift trägt, deren lateinische Entsprechung folgendermaßen lautet: hoc est secretum mundi et scientia Artis naturae. Identifizierung des Mannes des Lichts mit dem Führer des Lichts wird dadurch erreicht, daß Phos zum Lichtträger gemacht wird, ...« (ebd.)

»Eine besonders tiefe und originale Ausarbeitung des Themas der Vollkommenen Natur findet man bei einem Philosophen, der kurz vor Sohravardi lebte, Abu'l-Barakat Baghdadi, ein feinsinniger und sehr individueller Denker jüdischen Ursprungs, der spät in seinem Leben zum Islam übertrat und etwa um 560/1165 im Alter von neunzig Jahren starb.« (ebd.)
»Die Kogi-Indianer Kolumbiens beschreiben den Kosmos als eine Spindel. Seine neun Ebenen sind zwischen Himmel und Unterwelt unterteilt, und die mittlere Scheibe – diejenige, die der Erde entspricht – wird durch die interkardinalen Richtungen stabilisiert, die symbolisch die Sonnenaufgangs- und -untergangsextreme der Sonnenwenden verkörpern. (Griffith Observatorium, nach G. Reichel-Dolmatoff)« (Krupp, S. 238f, Hervorhebung von S.T.)

»Die Grenzebene zwischen fester Erde und Meer wird durch den Himmelsäquator repräsentiert. Die Hälfte des Zodiaks ist also unter ›Wasser‹, und zwar die südliche Ekliptik, die von den Tag- und Nachtgleichen begrenzt wird. Es gibt noch feinere Unterteilungen, ›Zonen‹, ›Gürtel‹ und ›Gegenden‹, die die Sphäre von Nord nach Süd unterteilen. Am interessantesten jedoch ist, daß der ›Himmel‹ ebenso wie die Gewässer des Südens einen Anteil in der ›bewohnten Welt‹ haben, der ihnen zugeordnet ist.«
(de Santillana/von Dechend, S. 214)

»Turkmenische Stämme des südlichen Turkistan berichten über eine Kupfersäule, die den ›Nabel der Erde‹ markiert, und sie behaupten, daß nur der neunjährige Held Kara Par dazu in der Lage ist, die Säule zu heben und herauszuziehen. Niemand nimmt zu der seltsamen Idee Stellung, daß jemand begierig sein könnte, den ›Nabel der Erde herauszuziehen‹. Als der junge Arthur dies mit Excalibur tat, fanden die Ereignisse bereits in einem vertrauteren Rahmen statt und provozierten keine Fragen mehr.« (ebd., S. 215)

»Das Yod [yad bedeutet Hand] ist die Quelle. Seine Wurzeln sind verwurzelt, und seine Ströme sind verbunden, und seine Tropfen ruhen auf dem Tikkun [Reparatur] des Kreises. Der Kreis umgibt das, was er umkreist, während er das, was steht, umkreist, es zum Stehen bringt, sodann zum Fragen, zum Stillsein und schließlich zum Schreien. Während der Schrei weitergeht, gibt er Geburt, springt weiter und dehnt sich aus. Diese Ausdehnung wird stärker und strahlt. Das ist der uranfängliche Äther. In ihm kehren alle generellen Prinzipien ins Detail zurück und alle Details in die Prinzipien. Alle sind im Yod eingeschlossen. Sie alle läuten aus und kehren zurück und schreien. In ihrer Rückkehr werden sie zu einem Kreis. ... Die Teile werden Stück für Stück zusammengefügt, bis sie wieder eins sind.« (Verman, S. 53-54, Hervorhebung und eckige Klammern von S.T.)

»Die Geschichte von Prestor John's Paradies enthält so viele Parallelen zu der des Grals, daß es nur schwerlich abzustreiten wäre, sie sei eine indirekte Quelle für Details, die in diesen Erzählungen auftreten. Denn hier haben wir all die Elemente der Gralsgeschichte: den Tempel auf der Spitze des von Wasser umgebenen Berges, das Gefäß, das eine heilige Reliquie enthält; ... selbst die zwölf Klöster um den See herum erinnern an den runden Tisch mit seinen (ursprünglich) zwölf Sitzen. Das an Ketten aufgehängte Gefäß ruft die Erinnerung an die magische Schale in der Erzählung des Yvain wach, die einen Sturm verursachte, wenn Wasser aus ihr auf einen Smaragd gegossen wurde.« (Matthews, S. 28, Hervorhebung von S.T.)

Die zwölf Sitze sind um den Runden Tisch (die Erdscheibe) angeordnet wie die zwölf Häuser des Zodiak, die zwölf Stämme um den Tabernakel, die zwölf Monate im Jahr, die zwölf Apostel um den Prophet, und viele andere 12 um 1-Strukturen – denn alle werden von den zwölf Fingern der drei Hände (4x3=12) repräsentiert, die den Baldachin der Himmel formen. Die drei Daumen passen in den Blitzstrahlvortex im Zentrum der Erdscheibe/des Runden Tisches. Wenn man es als eine idealisierte Frucht betrachtet, etwa wie einen Apfel, repräsentiert der Fruchtstiel das heilige Schwert, Excalibur, den radif [arabisches Wort für: Achse, First], den teli [Begriff aus dem Sepher Jezira für: Schlange, Achse, First], die Achse und die Pole der Welt.

Anmerkung zu einer möglichen hebräischen Bedeutung von Smaragdina: Im Hebräischen bedeutet tZeMeR Wolle. Wolle kennt man auch in einer anderen Reihe von Wörtern, die auf einer anderen Wurzel beruhen: Sof. Ain Sof (Unendlichkeit-Gott), Sofia (Weisheit), Sufi, Sufah (Wirbelsturm). Die Gesamtheit der Kontinuierlichen Schöpfung nimmt die Form einer weichen, verwobenen, rauch- oder wolkenartigen, umschließenden Flaumkugel an – in der geometrischen Metapher ist es wie ein Wollknäuel.


»Hermes Trismegistos ist auf einem der Bilder dargestellt, mit denen der Boden der Kathedrale von Sienna verziert ist.«

»Am Fuße des Bildes findet sich die Inschrift Hermes Mercurius Trismegistus contemporaneus Moysi

»Diese Interpretation des Bildes würde mit den Vorstellungen übereinstimmen, die zu dieser Zeit geläufig waren. ›Hermes‹, so dachte man, ›lernte seine Philosophie von Moses, in dessen Zeit er lebte. Von Hermes war die Lehre zu Platon übermittelt worden, und so kam es, daß Platon in seinem Timaeus die die Schöpfung der Welt betreffenden Lehren des Moses wiedergab.« (Scott, S. 2, Fußnote 1)


Aus dem Amerikanischen von Ronald Engert

 

 

Literatur:

1 Faivre, Antoine: The Golden Fleece and Alchemy, SUNY 1993

2 Fideler, David: Jesus Christ Sun of God, Ancient Cosmology and Early Christian Symbolism, Quest Books, 1993 Hall, Manly: The Secret Teachings of All Ages, PRS 1977

3 Krupp, Dr. E.C., Echoes from the Ancient Skies. The Astronomy of Lost Civilizations, Harper and Row 1983

4 Matthews, John: The Grail, Quest for Eternal, Thames and Hudson 1981

5 Corbin, Henry: The Man of Light in Iranian Sufism, Shambhala 1978

6 de Santillana, Georgio und von Dechend, Hertha: Die Mühle des Hamlet, Springer Verlag, Wien/New York 1994

7 Scott, Walter (Hg.): Hermetica. The Ancient Greek and Latin writings which contain religious or philosophical teachings ascribed to Hermes Trismegistus, Vol. 1, Hermes House, Boulder 1982

8 Verman, Mark: The Fountains of Wisdom, The Books of Contemplation; Medieval Jewish Mystical Sources, SUNY 1992

 

 

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