Ein Gott oder viele?


Der Gott Abrahams aus der Sicht
eines Mathematikers




Stan Tenen, Mathematiker und Leiter der Meru Foundation, spricht hier über die mathematische Notwendigkeit der Singularität Gottes. Die Idee von dem einen Gott sieht er nicht als ideologische Vereinnahmung durch die Religionen, sondern als ein tiefes Menschheitswissen, daß allen Religionen gemeinsam ist.

 

Der Talmud teilt uns mit, bezugnehmend auf die Darstellung der Bibel, daß Abraham den Einen Gott entdeckte, während er im Hause seines Vaters Terach lebte.1 Terach, so erfahren wir weiterhin, war ein gebildeter Mann mit großen Kenntnissen im Bereich der Künste, der Philosophie und der spirituellen Praktiken seines Heimatlandes Ur der Chaldäer, einem kultivierten und hochentwickelten Stadtstaat Babyloniens des 2. Jahrtausends v. Chr. (Gen 11:27-12:4).

Abraham ist zu Hause. Er denkt über die vielen Götterbildnisse aus Stein und Metall nach, die sein Vater herstellt und verkauft. Da kommt ihm die Erkenntnis, daß all diese Götterbilder tot und inaktiv sind, und er »entdeckt« den Einen Gott.

Dies ist eine sinngemäße Darstellung der traditionellen Geschichte. Wie sollen wir das verstehen? Wenn wir annehmen, daß die Geschichte wörtlich zu verstehen ist, dann hat Abraham erkannt, daß die Götterbildnisse, die sein Vater anfertigt und verkauft, ohne Leben sind und somit keinerlei Wirkung auf die Welt haben, wie auch immer man zu ihnen betet oder welche Opfer man ihnen darbringt. Wir nehmen damit weiterhin an, daß ein Mann, der uns als wohlerzogen und gebildet beschrieben wird, unwirksame und leblose Figuren als Götter verkauft. Wenn wir jedoch heute eine solche wohlerzogene und gebildete Person treffen würden, schiene es uns nicht gerade plausibel, daß eine solche Person mit toten Abbildern von Götzen Geschäfte macht. Warum sollten wir dann so etwas über Terach annehmen?

Man stelle sich statt dessen das folgende Szenario vor: Terach, als gebildeter und weltoffener Mann, kennt und respektiert die Künste, Wissenschaften und spirituellen Glaubensinhalte aller verschiedenen Völker und Kulturen, die in seiner Welt bekannt waren. Wir erwarten dies von gebildeten Menschen der heutigen Zeit. Wenn dem so ist, dann könnten die »Götzenbilder aus Stein, Holz und Metall«, auf die in der traditionellen Erzählung Bezug genommen wird, tatsächlich spezifische kulturelle Verkörperungen der Künste, der Wissenschaften und des Heiligen sein, wie sie aus verschiedenen Kulturen bekannt sind. Die »Götzen« dieser entwickelten Völker sind dann nicht steinere Abbilder und Statuen im wörtlichen Sinne, sondern sie stellen die kulturellen, politischen, sozialen und wissenschaftlichen Paradigmen dieser Gesellschaften dar und verkörpern die Weltbilder, in die sie eingebunden sind.

Wenn wir die spirituellen Glaubenssätze und Kosmologien von vielen alten und modernen Kulturen studieren, stellen wir fest, daß sie alle exzellente Modelle gewisser essentieller Lebensprinzipien enthalten – wenn auch jede in ihrem eigenen kulturellen Kontext, in ihrer eigenen charakteristischen Perspektive. Die Griechen und Perser bildeten ihre Sicht der Lebenszyklen in einem Pantheon der Götter und Göttinnen ab, die auf den zwölf Häusern des Tierkreises beruhten. Die alten Chinesen entwickelten eine Kosmologie und ein eigenes ideographisches Alphabet, das auf die 28 Häuser des Mondkreislaufes bezogen war.2 Und die Druiden Nordeuropas gründeten ihr Modell der Selbstorganisation des Lebens auf die Beobachtungen der Lebenszyklen der Bäume und anderer wachsender Dinge.

Jede Kultur hat präzise und effektive Modelle der zyklischen, selbstvermehrenden und selbstbezüglichen Natur allen Lebens in Begriffen erschaffen, die den Bedürfnissen und Erfahrungen dieser Kultur angemessen waren. Auf diese kulturell verschiedenen Verkörperungen der allem Leben zugrunde liegenden Prinzipien kann im Sinne von »Götterbildnissen aus Stein, Holz und Metall« Bezug genommen werden. Diese »göttlichen« kulturellen Paradigmen (und mit ihnen die Steinstatuen von diesen »Göttern«) werden von der Gesellschaft, die von ihnen Gebrauch macht, hochgeschätzt und verehrt. Alle Kulturen bilden den gleichen Prozeß der gleichen allumfassenden Einheit der natürlichen Welt ab, und jede von ihnen benutzt andere physikalische Modelle dafür. Abraham sah hinter jedem Beispiel einen einzigen Archetyp und definierte den Einen Gott als die Einheit, die all diesen individuellen historischen Formen zugrunde liegt. Aus dieser Sicht handelte Abraham wie ein Mathematiker: Er postulierte eine sinnvolle und funktionierende Definition der Einheit. Das mathematische Konzept benutzt keine der »Gewänder« der vielen verschiedenen kulturellen Ausformungen. Obwohl dieses Konzept von der Geometrie und der Form Gebrauch machen muß, um ausgedrückt werden zu können, muß es doch als eine vollständige Abstraktion ohne physikalische Verkörperung angesehen werden. Ein guter Mathematiker toleriert keine unnötigen Ausschmückungen.

Diese Sichtweise mag verständlich machen, warum die abrahamitischen Religionen – Judentum, Christentum und Islam – mit solchem Mißbehagen auf »Bildnisse« Gottes blicken. Jedes »gemachte Bildnis« ist nur die physikalische Repräsentation der Ikonographie einer einzelnen Kultur während einer bestimmten historischen Periode; es vermag niemals das zeitlose Modell einer universellen, allem zugrunde liegenden Einheit zu sein. Wenn wir diese Idee von Gott als eine für die Universalität notwendige Definition begreifen, können wir – vielleicht zum ersten Mal – verstehen, wie das Beharren der abrahamitischen Religionen, daß Gott der einzige Gott ist, tatsächlich wahr sein kann und nicht nur chauvinistische religiöse Arroganz ist. So können wir ebenfalls verstehen, daß dies nicht etwa den Wert anderer Religionen bestreitet. Die Definition der Einheit ist in keiner Weise eine Degradierung anderer Sichtweisen.

Selbst bevor Moses die Tora gegeben wurde, ist es möglich, daß Abraham die Übereinstimmung seiner ultimativen singularen Definition des Einen Gottes mit der persönlichen meditativen Erfahrung Gottes erkannte. Dies läßt vermuten, daß die alten Weisen die Erkenntnis einer spezifischen mathematischen Definition der Einheit hatten, die darüber hinaus das Modell einer zur meditativen Erfahrung der Einheit führenden Gefühlssequenz ist – zu beobachten im Yoga und in der »Reise des Helden«3. Diese Erfahrung ist vielleicht die Gnosis, die den spirituellen Traditionen ihre Kraft und ihre Gültigkeit verleiht. Weiterhin war dieses Prinzip auch in anderen Kulturen bekannt und als fundamental erachtet, wenn auch die Details einer expliziten Definition der Einheit Gottes vielleicht am vollständigsten in den abrahamitischen Religionen zum Ausdruck kommt. Terach und Abraham lebten nicht in einem kulturellen Vakuum.
Folgender Text von Anne Macaulay über den Ursprung der Apollo-Figuren sei hier zitiert: »Nun zurück zu Apollo. Es kam wie ein Schock über mich zu erfahren, daß dieser Gott von einer geometrischen Form abgeleitet war. Das ist kein vergöttlichter Held und keine archetypische Göttergestalt, sondern die Synthese aus den Fakten, die bzgl. der Konstellationen der Sterne, des Mondes und der Sonne zur Erde beobachtet wurden; ein Chronometer und Kalender; eine Darlegung der Himmelsgesetze in Begriffen von geometrischen und mathematischen Elementen, die ihrerseits absolute Gesetze enthüllen; und diese Gesetze finden auch auf die Musik Anwendung: das muß die Sphärenmusik sein. Das Konzept ist total, und die harmonische Natur der Musik demonstriert die große Harmonie der Schöpfung. Apollo kann demzufolge als der Logos gesehen werden, oder, anders ausgedrückt, als die Definition des absoluten Gottes.«4

R.A. Schwaller de Lubicz, der Esoteriker und Erforscher der heiligen ägyptischen Kunst, sagt: »Im Ägypten der Pharaonen (und ebenso in Indien, wenn auch mit gefährlichen Komplikationen), war Neter Neru, der eine und einzige unerkennbare Gott, eine Idee, die aus logischer Schlußfolgerung abgeleitet war.«5 Dies zeigt die beträchtliche Weisheit der Alten, die sich offensichtlich der Notwendigkeit bewußt waren, den Einen Gott mit einer abstrakten Definition der Einheit zu identifizieren.

 

Singularität und der Eine Gott

Viele Musiker und Elektronikenthusiasten würden wohl mit Anne Macaulay übereinstimmen, daß »die harmonische Natur der Musik die große Harmonie der Schöpfung widerspiegelt« (s. Zitat oben). Jeder musikalische Impuls besteht aus der Summe vieler einzelner reiner Töne; selbst eine gewöhnliche Note wird aus vielen merkwürdigen Harmonien gebildet. Ein wahrhaft unendlicher Impuls würde demnach aus der Summe aller möglichen reinen Töne bestehen. Die Art und Weise, wie Musiker das Spektrum musikalischer Harmonien untersuchen, ist die gleiche wie der mathematische Vorgang der Fourier-Transformation: Ein scharfer, lauter Ton besteht aus einem breiten Spektrum reiner Töne. Entsprechend würde ein unendlich lauter, kurzer und scharfer Impuls – den wir mit einer musikalischen Singularität vergleichen können – das harmonische Spektrum aller Töne erzeugen – was wir mit Allem was ist gleichsetzen können.

Die Fourier-Transformation von Allem was ist ist ein singulärer Impuls von unendlicher Intensität und minimalster Dauer am Beginn der Zeiten – zur Schöpfung. Dies läßt die Vermutung zu, daß sich der Urknall, das moderne physikalische Schöpfungsmodell, von einem außergewöhnlich singulären und intensiven Impuls aus entfaltet, der mathematisch gesehen möglicherweise mit der Definition Abrahams von dem Einen Gott äquivalent ist. Wenn das Universum in seiner Ausdehnung und Dauer begrenzt ist, dann kann die letztendliche Quelle nicht allmächtig sein. Umgekehrt, die Annahme einer unendlichen Quelle führt zu dem Schluß, daß das Universum selbst ebenso unendlich, offen und ewig ist. Abrahams Verständnis des Einen Gottes und unser modernes Verständnis des Universums können damit sehr gut auf gemeinsame fundamentale Prinzipien zurückgeführt werden.

In gleicher Weise können wir die Idee der uns am nächsten liegenden logischen Singularität – der Sonne, die der Gott vieler alter Kulturen war – in eine angemessene Definition der außergewöhnlichen transzendenten Einheit des Einen Gottes erweitern: Der Physiker Roger Penrose erklärt, daß – sinngemäß wiedergegeben – die Quelle der Neg-Entropie (zu verstehen als Ordnung oder Information, das Gegenteil der Entropie) aller lebender Prozesse aus dem Kontrast zwischen der heißen, leuchtenden Sonne und den kühlen, dunklen Sphären der Himmel hervorgeht.6 Penrose zeigt auf, daß unsere »lokale« Neg-Entropie, die spezifische Ordnung der selbstorganisierenden, lebenden Systeme, aus dem unterschiedlichen Informationsgehalt von heißen ultravioletten Photonen, die wir von der Sonne empfangen, und kühlen, eher entropischen (ungeordneten) infraroten Photonen, die wir in den kühlen, dunklen Himmel zurückstrahlen, entsteht. Die Quelle der Information, die notwendig ist, um Leben zu erschaffen und zu vermehren, liegt im Kontrast zwischen Sonne und Himmel.

Dieses Modell läßt Schlüsse zu, warum in traditionellen Gesellschaften (ebenso wie in der heutigen) diejenigen, die glauben, daß Leben vollständig physisch und das Bewußtsein alleine ein Epiphänomen der physikalischen Organisierung ist, von der Sonne als Quelle des Lebens ausgehen. Ausschließlicher Materialismus ist das Äquivalent zur Sonnenanbetung. Tatsächlich sind also Materialisten keine Atheisten; sie können als Verehrer des heißen »metallischen oder steinernen« Gottesbildes angesehen werden, daß die Griechen Helios oder Apollo nannten.

Wir können Penroses Beobachtungen insofern noch einen Schritt weiter treiben, als das Leben auf der Erde noch eine weitere Stufe der Organisation erreicht: Menschliche Wesen (und vielleicht einige wenige andere Lebewesen wie Primaten, Elefanten und die Cetacea) sind nicht einfach nur lebende Tiere, sondern auch bewußt und sich ihrer selbst gewahr. Menschen haben Hände mit gegenüberstehenden Daumen, die unsere selbstreflexive Gewahrsamkeit markieren. Als ein Ergebnis davon formen und verwenden wir Sprache.7 Penroses Argument folgend stellt sich die Frage, woher bekommt unser selbstbewußtes Bewußtsein seine Information zur Organisierung? Welche »Hand« informiert unser »höheres« menschliches Bewußtsein? Können wir einen größeren Kontrast finden als den zwischen unserem Stern und dem Himmel? Begrifflich zumindest können wir das. Der Kontrast zwischen unserer physikalischen Sonne und dem Himmel kann, zumindest im Prinzip, durch die Annahme erweitert und idealisiert werden, daß es eine noch höhere und leuchtendere Quelle gibt – eine Quelle von Allem was ist.

Wenn die Sonne eine sehr leuchtende, und sehr weit (jedoch nicht unendlich weit) entfernte Quelle ist, können wir uns die Konsequenzen einer unendlichen Quelle mit unendlicher Distanz zu uns vorstellen. Wir können ein Modell einer ausschließlichen singulären und omnipotenten Quelle definieren. Wie die Fourier-Transformation führt uns die Erweiterung auf Penroses hohen Kontrast zu einem unendlichen Impuls. In diesem Fall ist der Impuls eine unendliche energetische Singularität, die unendlich weit entfernt ist. Das könnte dann die »Hyper«-quelle unseres menschlichen Bewußtseins sein. Diese entfernteste und leuchtendste Quelle könnte auch die Quelle der höchsten Information und der niedrigsten Entropie sein. Es wäre somit die »hyper-neg-entropische« Quelle des universalen Bewußtseins, die mit dem Einen Gott korreliert.

 

Modelle der Ganzheit, der Singularität und des höchsten Kontrasts

Wie müssen wir uns diese höchste, erhabenste unerkennbare Einheit vorstellen, um eine Repräsentation unserer einmaligen Definition der Singularität des Einen Lebenden Gottes zu erhalten? Gibt es ein vollkommen abstraktes (nicht abbildhaftes) mathematisches Modell, das Singularität, Einzigartigkeit, Selbst-Organisation, Universalität, Unendlichkeit, Eleganz und Einfachheit verkörpert? Was ist das eleganteste und vorzüglichste Modell des »höchsten Kontrasts«? Könnte das gleiche Modell auch den Meditationsvorgang oder den Weg und das Ziel der »Reise des Helden« repräsentieren?

In seinem Buch The Laws of Form schlägt der Mathematiker G. Spencer Brown das »Merkmal der Unterscheidung«, das zwischen innen und außen differenziert, als Definition des maximalen Kontrasts vor. Mathematiker haben gezeigt, daß alle formale Logik von Spencer Browns »Merkmal der Unterscheidung« abgeleitet werden kann.
Er schreibt: »Ein Universum entsteht, wenn ein Raum abgetrennt oder weggenommen wird. Die Haut eines lebenden Organismus trennt das Außen vom Innen. Dasselbe vollbringt die Linie eines Kreises in einer Ebene. Wenn wir den Weg einer solchen Abtrennung zurückverfolgen, können wir akkurat und mit fast unheimlicher Treffsicherheit die elementaren, den linguistischen, mathematischen, physikalischen und biologischen Wissenschaften zugrunde liegenden Formen rekonstruieren. Wir können sehen, wie die gewohnten Gesetzmäßigkeiten unserer Erfahrung zwangsläufig aus dem ursprünglichen Akt der Abtrennung hervorgehen.


Ansichten einer Hypersphäre, deren bildliche Darstellung
aufgeschnitten wurde, um ihre innere Struktur sichtbar zu machen

 

Obwohl alle Formen, und somit alle Universen, möglich und alle Formen veränderlich sind, wird es evident, daß die Gesetze, die diese Formen miteinander in Beziehung setzen, die gleichen in jedem Universum sind. Es ist diese Gleichheit, die Idee, daß wir eine von dem aktualen Erscheinungsbild eines Universums unabhängige Realität finden können, die dem Studium der Mathematik solche Faszination verleiht.«8
Im Hebräischen ist der Buchstabe, der diesem »Merkmal der Unterscheidung« am besten Ausdruck verleiht, das Beth , der erste Buchstabe des hebräischen Texts der Genesis. (Im Hebräischen bedeutet Beth »Haus«, und natürlich unterscheidet ein Haus buchstäblich zwischen »drinnen« und »draußen«; vor ein Nomen gestellt bezeichnet diese Präposition »in«.) Passenderweise führt es die erste mögliche logische Unterscheidung ein.

Die Unterscheidung zwischen archetypischer Symmetrie und Asymmetrie ist ebenfalls primär und von absolutem Kontrast. Das eine co-definiert das andere. Ohne einen entsprechenden Begriff von Asymmetrie ist es nicht eindeutig möglich, Symmetrie zu definieren. Archetypische Symmetrie kann durch die kompaktesten Strukturformen in jeder beliebigen Dimension repräsentiert werden. Die fünf platonischen Körper (Tetraeder, Kubus, Oktaeder, Ikosaeder und Dodekaeder, s. Figur 1) und die archimedischen halbregelmäßigen Körper können fundamentale Symmetrien in den drei Dimensionen definieren. (Mathematiker und Physiker leiten die von ihnen verwendeten Symmetriegruppen von diesen polyedrischen Archetypen ab.)
Archetypische Asymmetrie kann von einer dynamischen Form repräsentiert werden, die in ihrer Entfaltung kontinuierlich Symmetrien bricht. Die Forschung der Meru Foundation kommt zu dem Schluß, daß es sich um einen speziellen, expliziten Vortex handelt, den wir die »nackte Rekursion« [in etwa: »nackte Wiederholung«; d. Übersetzer] nennen – »nackt« im mathematischen Sinne von »schmucklos«, »ohne jede andere Qualität« – und der mit der »Flamme des Bewußtseins« in Beziehung gesetzt werden kann, dem archetypischen Vorgang eines »Fruchtbaumes, der eine Frucht hervorbringt ..., deren Same innerhalb ihrer selbst ist« (Gen 1:11). Diese Form kann ebenfalls mit ihrer höchsten menschlichen Verkörperung, der Hand, in Beziehung gestellt werden (s. Fig. 2). Wie später gezeigt werden wird, ist das Erstaunlichste an diesem vortexförmigen Handmodell seine direkte Beziehung sowohl zu unserem Bewußtsein als auch zu unserem kosmologischen Modell der Einheit, Singularität und Ganzheit.

Traditionell bezogen sich die Mystiker und Kabbalisten auf das Modell der Asymmetrie vs. Symmetrie des höchsten Kontrastes als »Flamme und Kohle« (absolute Einheit kann nur existieren, wenn die »Flamme« die »Kohle« heiratet)9, als »das Licht im Versammlungszelt«, oder vielleicht im Sinne Platos als »das Gleiche (symmetrisch) und das Verschiedene (asymmetrisch)«. Der Vortex ist die Flamme; der Tetraeder repräsentiert die Kohle; zusammen formen sie eine Einheit (s. Fig. 2). Im Taoismus wird der »Hyper-Kontrast« durch das Yin-Yang-Symbol dargestellt.
Viele Darstellungen des äußersten Kontrastes sind Variationen des Außen-Innen-Modells. Darin eingeschlossen sind der Hypercubus und die Hypersphäre, die durch die Plazierung eines kleinen Kubus bzw. Sphäre in einem größeren entstehen. Die Innen-Außen-Richtung bildet die vierte Dimension. Der mathematische Philosoph Arthur M. Young stellt in seinem Buch Reflexive Universe heraus, daß die Oberfläche einer vierdimensionalen Hypersphäre die gleiche ist wie das Volumen eines festen Torus im dreidimensionalen Raum.10

In lebenden Dingen ist der Same innen und die Frucht außen, das Sperma ist innen, und das Ei ist außen, und dadurch entstehen Paare wie diese:

In diesen Verkörperungen ist das asymmetrische, dynamische Element konzeptuell innen (Same, Geist, Spirit) und seine symmetrische komplementäre Projektion außen (Frucht, Körper, Materie).11 Das moderne physikalische Konzept der Komplementarität von Welle und Partikel als zwei veränderliche, sich gegenseitig ausschließende (höchst-kontrastierende) Aspekte aller fundamentalen Entitäten bildet auch die Innen-Außen-Beziehung ab, und es gibt noch viele andere Beispiele.

Mathematiker schlagen vor, Singularitäten – formale mathematische Definitionen der Einheit – als Torusschleife darzustellen. Torusschleifen sind einfache »Flechtkorb«-Muster oder ringförmige Windungen. Die einfachste Schleife ist auch die einfachste Torusschleife. Der Torus (die Krapfenform) selbst definiert also die primäre Unterscheidung zwischen Innen und Außen (s. Fig. 3) . Die Illustration der kontinuierlichen Schöpfung (s. Fig. 4) versucht zu zeigen, wie eine Spanne von spirituellen Metaphern verschiedener Traditionen in einem geometrischen Modell des höchsten Kontrasts von Ganzheit und Singularität miteinander in Einklang gebracht werden können. Es zeigt einige wenige der Namen, unter denen der eingewölbte Torus in verschiedenen Kulturen und spirituellen Traditionen bekannt ist. In diesem Modell bezieht sich die kontinuierliche Schöpfung auf die ununterbrochene Kette des Lebens: Same-Baum-Frucht/ Same-Baum-Frucht usw. Es stellt den reflexiven selbstorganisierenden Prozeß dar, der der natürliche Transformations- und Entfaltungsvorgang von jedem »Samen« (Singularität, Tao, Sonne) durch seinen »Baum« (Entfaltung, Flamme, Weltberg) in eine neue »Frucht« (Ganzheit, Hand, Welt) seiner Art ist. Es repräsentiert das generelle Prinzip der endlosen Fortpflanzung des Lebens durch das Leben, das das zyklische Modell von Singularität, Entfaltung und Ganzheit mit Inhalt füllt. Es gibt ebenso den Vers der Genesis (1:11) wieder, der in dem kabbalistischen Standardwerk Sohar zitiert wird und von einem »Fruchtbaum, der Früchte hervorbringt ..., deren Same im Innern ihrer selbst ist«, spricht.

Der erste Vers des hebräischen Textes der Genesis zeigt die nackte Rekursion (... Eichel-Eiche-Eichel-Eiche ...) in der Form einer menschlichen Hand. (Die Handform erscheint, wenn der Vortex aus Gen. 1:1 auf einem eingewölbten Torus ähnlich einer Torusschleife plaziert wird; s. Fig. 5.) Vielleicht die überraschendste und aufsehenerregendste Eigenschaft dieser Handform der nackten Rekursion ist, daß sie, wie ein Handschuh in die Hand gelegt, durch unterschiedliche Gesten alle Buchstaben des hebräischen Alphabets abbildet (s. Fig. 6). Die arabischen und griechischen heiligen Alphabete sind durch eine ähnliche Form gebildet.

Weil wir das Modell in unserer Hand fühlen können und weil wir immer unsere eigenen Hände in unserem geistigen Auge »sehen« können, können wir auch die Modellhand in unserem geistigen Auge sehen. Schließen Sie Ihre Augen und zeigen Sie an die Decke. Sie werden merken, daß Sie sagen können, wie Ihre Handhaltung ist und wohin Ihre Finger zeigen, obwohl Ihre Augen geschlossen sind. Nun öffnen Sie die Augen, und bestätigen Sie, daß die innere Sicht Ihrer Hand korrekt war. Dies bedeutet, daß jede Geste, die einen bestimmten Buchstaben in der Hand abbildet, diesen Buchstaben ebenso im Geist abbildet. Da die durch die Handgesten hervorgebrachten Buchstaben Richtungen unseres bewußten Fokus in unserem Geist repräsentieren können, ist es möglich, eine derartige Buchstabensequenz zur Spezifikation oder Rekonstruktion meditativer Erfahrungen zu nutzen. Dies mag erklären, warum bestimmte Schriften kanonisiert wurden und warum diese Buchstaben regelrecht »heilig« genannt wurden. Somit sind die Buchstabenzeichen gleichzeitig Elemente der Kosmologie und des Bewußtseins.

Da ein bestimmtes Repertoire an Handgesten universell für alle Menschen gilt, geht die Forschung der Meru Foundation davon aus, daß jeder Buchstabe, dargestellt durch eine entsprechende Geste (und gesehen im geistigen Auge), eine explizite Bedeutung hat. Zum Beispiel bedeutet der Name des hebräischen Buchstabens Peh(, griechisch oder Pi, arabisch fe, deutsch traditionell »Mund« (oder »Kehle«, »Hauch« oder »verschlingen«). Er kann nur dann in dem Handmodell gesehen werden, wenn er in der Hand getragen wird – innerhalb der Begrenzungen, die durch die Bewegung des Armes und des Handgelenks vorgegeben sind – und wenn unsere Hand zum Mund zeigt, mit dem Daumen nach innen und den Fingern in einer aufgeblähten Geste gewölbt. Jeder andere Buchstabe wird in ähnlicher Weise durch die Geste, die ihn uns zeigt, definiert. Es ist üblicherweise möglich, die darunterliegende Bedeutung (wenn auch nicht die idiomatische Bedeutung) von Wurzelwörtern in allen Sprachen, die phonetisch mit Hebräisch, Griechisch oder Arabisch in Beziehung stehen, allein durch die Überprüfung der Buchstabensequenzen zu dechiffrieren. (Für weitere Informationen: siehe Adresse der Meru-Foundation am Ende des Artikels.) Es gibt noch sehr viele Beispiele, die wir aus allen Kulturen und Fachbereichen anführen können.

Schließlich gibt es ein hebräisches Wort für Einheit (»eins«): EcHoD (). Die in diesem Wort enthaltenen Buchstaben bilden zusammen die Bedeutung »archetypische Schärfe oder Scharfsinnigkeit«: aleph (), »Archetyp von«; chet (), »umfassen«; dalet (), »trennen«. In seiner ausgesprochenen Singularität bedeutet EcHoD die Essenz des »höchsten Kontrasts«. Das sogenannte Credo des Judentums, die Shema, sagt: »Höre Israel, der Herr ist Gott, der Herr ist EcHoD (Einer, Singular).«

Dieses alte Modell der Einheit von Physik und Bewußtsein ist auch im heutigen Sinn zwingend und wirksam. So schreibt der Physiker Nick Herbert in Quantum Theory, Beyond the New Physics: »Eine der größten wissenschaftlichen Errungenschaften, die man sich vorstellen kann, wäre die Entdeckung einer expliziten Beziehung zwischen den Alphabeten der Wellenform der Quantenphysik und bestimmten menschlichen Bewußtseinszuständen.«12

Es scheint so, als ob das abrahamitische Modell des Einen Gottes und die hebräischen, griechischen und arabischen Alphabete, die von ihm ausgehen, Herberts Wunsch erfüllen können. Obwohl bei denen, die die Geometrie nicht verstehen und deshalb an dem wörtlichen Verständnis der spirituellen Traditionen festhalten, dieser Gedankengang als Häresie (und damit als wertlos) betrachtet werden mag, gibt es wohl tatsächlich keine Möglichkeit, diese Singularität ohne Mathematik zu beschreiben. Auch wenn manche Quellen darauf beharren, daß es eine erfundene Anekdote ist, so ist doch die allgemeine Meinung die, daß folgendes Motto über dem Eingang zu Platos Akademie zu lesen war:
»Nur wer mit der Geometrie vertraut ist, sollte hier eintreten.«

Die hier dargelegte Perspektive bringt zum Ausdruck, daß wir nicht leichtfertig die spirituellen Implikationen der traditionellen Religionen von uns weisen sollten. Wenn wir diese Aussagen verwerfen, weil sie uns als apologetische Selbstverherrlichung interessengeleiteter Parteigänger erscheinen, wie es mir befreundete Gelehrte auslegten, dann schließen wir tatsächlich die Möglichkeit aus, daß diese Aussagen eine reale Bedeutung haben. Auch wenn spirituelle Fragestellungen oftmals zugunsten einer schwachen Anpreisung des Glaubens verworfen werden, müssen sie dennoch aufrichtig untersucht werden. Diejenigen, die diese Traditionen bewahrt und beschützt haben, sind möglicherweise nicht dieselben, die von ihrem Inhalt Gebrauch machen können.

Unsere spirituellen Traditionen sind die Behältnisse unseres Glaubens. Die Aufgabe dieser Behältnisse ist es, gleich Nußschalen oder Samenhülsen, den Kern im Innern mit seinem Lebenskeim, der Flamme, der Hand der Transzendenz, zu beschützen. Hätten diese Behältnisse nicht überlebt, gäbe es keine Hoffnung für eine Wiedergeburt des Keims – das »Licht« – , den sie in sich tragen.

Vielleicht hat unsere Vermutung, daß die Weisen des Altertums nicht wirklich Wissende waren, uns blind für ihr Wissen und ihre Weisheit gemacht. Die abrahamitische Forderung nach einem ausschließlichen, singularen, einzigartigen Einen Gott erscheint als stolze Aufgeblasenheit, wenn die Sicht übermäßig schmal und wortwörtlich ist. Wir mißinterpretieren unseren begrenzten Blick auf das »Gefäß«. Wenn wir uns der Unterscheidung zwischen innen und außen, zwischen Behältnis und Licht bewußt sind, können wir die wahre Bedeutung eines Modells der Singularität für die Definition des Einen Gottes wertschätzen.

 

 

Anmerkungen:

1 Der Talmud ist die »mündliche« Tora oder das Gesetz, das Moses auf dem Berge Sinai zusammen mit der geschriebenen Tora bekommen hat. Siehe Aryeh Kaplan, The Handbook of Jewish Thought (Brooklyn, N.Y.: Maznaim Publishing Co, 1979), S. 42. zurück

2 Hugh A. Moran & David H. Kelley, The Alphabet and the Ancient Calendar Signs (Palo Alto, Calif.: Daily Press, 1953), S. 13-31.zurück

3 »Die Reise des Helden« ist ein von Prof. Joseph Campbell entwickeltes Modell zur Beschreibung des mythologischen Archetypen des »Helden«, der seine Unschuld verliert und von Zuhause vertrieben wird. Der Held versucht, zurückzukehren und erleidet eine Reihe von spirituellen Prüfungen oder realen Abenteuern (in der Regel sieben), um daran zu reifen und den Weg nach Hause wiederzufinden. Wie sich zeigt, sind die sieben Stufen des Helden auf seiner Reise sehr ähnlich zu dem geometrischen »Pfad«, der durch das Flamme-Handvortex-Modell beschrieben wird. Das Modell beginnt in dem »Samen-Zentrum«, entfaltet sich über sieben Stadien des Wachstums, die dem 7-farbigen Schema entsprechen, das den Torus mathematisch definiert, und endet mit einer neuen »ganzen Frucht« (mit einem »Samen-Zentrum« im Innern, um den Vorgang von neuem zu beginnen). Somit kann das Flame-Handvortex-Modell, das ich die »nackte Rekursion« nenne, von jedem erfahren werden, der eine Version der »Reise des Helden« liest, die Illias, die Odyssee, Shakespeares »Sieben Zeitalter des Menschen« o.ä. zurück

4 Anne Macaulay, Apollo: The Pythagorean Definition of God (West Stockbridge, Mass.: Lindisfame Letter #14: »Hommage to Pythagoras«, 1982), S. 108-109. Hervorhebung von Stan Tenen. zurück

5 R.A. Swaller de Lubicz, The Egyptian Miracle (New York: Inner Traditions, 1985), S. 147, Hervorhebung von S.T. zurück

6 Roger Penrose, The Emperor's Mind (Oxford: Oxford University Press, 1989), S. 302-347; dt.: Computerdenken, Heidelberg. zurück

7 Zur Diskussion dieser These siehe: David McNeill, Hand and Mind: What Gestures Reveal about Thought (Chicago: Chicago University Press, 1992). zurück

8 G. Spencer Brown, Laws of Form (New York: E.P. Dutton, 1979), S. xxix-xxx; sowie Kapitel 1 und 2. Hervorhebung von S.T. zurück

9 David R. Blumenthal, Understanding Jewish Mysticism (New York: Ktav Publishing House, 1978), from Sefer Yetzirah, Kapitel 1, Mishna 7, Übersetzung, S. 17. zurück

10 Arthur M. Young, The Reflexive Universe: Evolution of Consciousness (Lake Oswego, Ore.: Robert Briggs Associates, 1988), S. 265-267; dt.: Der kreative Kosmos, München 1990. Aufs stärkste empfohlen, um den Prozeß der Selbstreferenz und seine Beziehung zum Torus zu verstehen. zurück

11 In diesem Zusammenhang ist die Bemerkung interessant, daß in den meisten dieser Beispiele die Gegenpole umgedreht werden können. Zum Beispiel wird in unserem Modell die geometrische Struktur (Kohle, Gefäß, Partikel, Tetraeder usw.) als »männlich« aufgefaßt, weil diese strukturellen Elemente, durch den Polyeder repräsentiert, fest, diskret und logisch exakt sind, wohingegen der komplementäre Prozeß (Flamme, Licht, Welle, Geist usw.) als »weiblich« betrachtet wird, weil die Vortex-Formen, die den Prozeß darstellen, zyklisch, kontinuierlich und dynamisch sind. Aber es könnte auch anders herum sein: Der Polyeder kann als Behältnis (gleich einer Gebärmutter) gesehen werden und somit als etwas Äußeres, wohingegen der Vortex das Eindringende (wie ein Penis) und deshalb Innere und damit auch Männliche ist. Dies spiegelt wider, wie Yin und Yang beständig ineinander übergehen und sich gegenseitig definieren. zurück

12 Nick Herbert, Quantum Reality: Beyond the New Physics (New York: Anchor Press/Doubleday, 1987), S. 249. zurück

 

Stan Tenen

 

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